Daniel Fasnacht
Disruptiven Wandel gestalten
Aktualisiert: 13. Jan. 2019
Daniel Fasnacht, Schweizer Bank, September 2018
Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Finanzplatzes hängen davon ab, wie die Branche mit dem disruptiven Wandel umgeht. Denn Geschäftsmodelle basierend auf digitalen Plattformen, eingebettet in Eco-Systeme, verändern die Finanzindustrie nachhaltig.
Der transformative oder vielzitierte disruptive Wandel hat mit dem Phänomen der disruptiven Innovation zu tun, welche verwirrenderweise für fast jegliche Veränderung inflationär benutzt wird. Harvard Business School Professor Clayton Christensen hat deshalb 20 Jahre nachdem er seine bahnbrechende Theorie vorstellte, 2015 den Begriff «disruptiv» präzisiert. Konkret bedeutet dies auf die Finanzindustrie angewendet, dass ein Produkt, welches historisch schwer zugänglich war, also nur für sehr vermögende Kunden angeboten wurde, dahingehend transformiert wird, dass beispielsweise auch Retail-Kunden davon profitieren können. Während Banken über Jahrzehnte die oberen Kundensegmente besetzten und mit Premium-Lösungen belieferten, die anderen verwehrt blieben, haben Start-up-Firmen begonnen, Technologie mit Finanzwissen zu verschmelzen und so unterentwickelte Märkte oder untere Kundensegmente mit ebenso interessanten Lösungen zu erschliessen.
Dies ist zwar nichts Neues, wurde aber in der Finanzindustrie so bislang nicht genutzt. Die demografischen Veränderungen und die immer kürzer werdenden Abstände, in denen Benutzer neue Technologien und Geschäftsmodelle akzeptieren, verschärfen die Tendenz, Finanzgeschäfte zunehmend in der Cloud, über Mobiltelefone oder mit Algorithmus-basierten Systemen zu erledigen. Der klassische Portfolio-Manager oder Kundenberater weicht einem Robo-Advisor, der die Masse mit Lösungen bedienen kann, welche ähnliche Kosten- und Risiko/Rendite-Profile aufweisen wie die individuellen Portfolios reicher Kundengruppen. Gegebenheiten wie in diesen und vielen anderen Beispielen führen letztendlich zu gesellschaftlichen Veränderungen. Wie noch nie zuvor wirken gegenwärtig verschiedenste Entwicklungen gleichzeitig auf den Finanzsektor ein und führen zu einer umfassenden Transformation.
Innovation durch Kollaboration
Nach der Finanzkrise verharrten viele Banken aufgrund von Klagen, Buss-geldern und regulatorischen Auflagen in einer Schockstarre. Der Mangel an Innovation ebnete den Weg für eine neue Sub-Industrie, die sich auf Kunden konzentrierte, welche das Ver-trauen in Grossbanken und in ihre in transparenten und komplexen Finanzprodukte verloren hatten. Diese sogenannten Fintech-Firmen hatten keine Altlasten und konnten ihre Geschäftsmodelle basierend auf dem Open-Innovation-Konzept schnell aufbauen sowie neuste Technologien einsetzen und bedrohen nun etablierte Finanzinstitute. Da grosse und globale Organisationen ihre IT, Innovationsprozesse und vor allem Unternehmenskultur nicht einfach ändern können, begannen einige, ihre Produktentwicklung auszulagern.
Der neue Fokus Richtung Innovation und Kundenerlebnis anstelle von Regulation und Effizienzsteigerung kann mit Hilfe eines Netzwerkes von Partnerschaften zum gegenseitigen Nutzen erreicht werden. Wenn verschiedene Kompetenzen und Branchen mit dem Ziel verbunden werden, ein Produkt zu entwickeln oder Mehrwert für Kunden zu generieren, sprechen wir von einem Innovations-Eco-System. Derartige geschäftsorientierte Eco-Systeme unterscheiden sich von wissensbasierten Eco-Systemen, bei denen primär kollektive Intelligenz genutzt wird oder der Austausch von Wissen und Erfahrung im Vordergrund steht.
Beide Formen bieten grösstmögliches Potenzial, wenn sie verbunden werden. Denn sobald der Innovationsprozess über Organisationsgrenzen aufgebrochen wird, entstehen neue Ideen. Eco -Systeme haben demnach immer das Ziel, mittels Kooperationen mit verschiedenen Wissensträgern (Universitäten, Forschungsinstitute, Innovations-Zentren, Think-Tanks, Banken, Fintech-Firmen und Branchenverbände) einen Beitrag zu einer Verbesserung zu leisten oder ein neues Produkt oder eine Dienstleistung zu entwickeln. Wichtig dabei ist, dass das Wissen jedes Beteiligten im Eco-Systems zum Wert des gesamten Systems beiträgt. Eco-Systeme wachsen meist automatisch durch die Summe positiver Interaktionen zwischen Mitgliedern.
Das Silicon Valley konnte sich so über Jahrzehnte zu einem der grössten und wichtigsten Eco-Systeme für Innovationen in Technologie, Internet und E-Commerce entwickeln und zieht dadurch immer mehr Firmen und Unternehmer aus anderen Branchen an. Das Crypto-Valley in Zug ist ein ähnliches Gebilde, das vom Netzwerk-Effekt profitiert und so zu einem hochspezialisierten Eco-System für Blockchain-basierte Geschäftsmodelle und Initial Coin Offerings (ICO) mutierte.
Daten als Rohstoff
In einer vernetzten Welt hinterlassen wir immer mehr digitale Fussabdrücke, sei es beim Einkaufen übers Internet, bei der Kreditsuche über eine Peer-to-Peer-Plattform oder beim Bezahlen mit der Kreditkarte oder einer App. Dazu kommt, dass vor allem die jüngere Generation sorgloser mit privaten Informationen umgeht und diese gerne in sozialen Medien teilt. Alle diese strukturierten und unstrukturierten Daten können systematisch gesammelt und mit künstlicher Intelligenz ausgewertet werden. Das Prinzip ist einfach: Je mehr sich Benutzer auf digitalen Plattformen aufhalten, desto mehr Daten können so akkumuliert und in wertvolle Informationen übersetzt werden. Die Informationen, die ein Eco-System so über mehrere Branchen und Plattformen zusammenträgt, können von grossem Nutzen sein, wenn es darum geht, Kundenbedürfnisse auf der Grundlage von Verhalten zu verstehen und darauf basierend neue Produkte und Dienstleistungen anzubieten.
Firmen wie Amazon, Apple, Google und Facebook sowie Alibaba, Baidu und Tencent in China nutzen ihre Technologie-Kompetenz und die hohen Benutzerzahlen, um mit ihren Plattformen sektorübergreifende Eco-Systeme aufzubauen. Die Daten, die aus diesen Eco-Systemen entstehen, sind auch für Grossbanken interessant und geben ihnen Zugang zu Kunden, die sie über ihre traditionellen Kanäle nicht erreichen würden, was die zunehmenden Kooperationen erklärt. Aber auch homogene Daten können für neue Lösungen herangezogen werden wie Nectar Financial aus Pfäffikon zeigt. Ihre Partnerfirma (Fund-base) akkumuliert über eine Plattform Fondsdaten, welche von Nectar ausgewertet werden und als Rohstoff in einem digitalen Anlageprozess verwendet werden. Basierend auf Crowd-Intelligence und mittels maschinellen Lernens werden einzigartige Investment-Opportunitäten aus über 15 000 Anlageinstrumenten gefunden und bewertet. Eine Peer-Group-Bewertung eliminiert dann die meisten Instrumente. Die verbleibenden 100 bis 200 werden durch eine automatisierte Einzelfondsermittlung mittels Multifaktoranalyse auf 15 bis 20 Instrumente reduziert. Eine menschliche Investitionsprüfung mit Due-Diligence- Partnern führt in die letzte Phase, wo eine Algorithmus-basierte intelligente Portfolio-Konstruktion den Aufbau eines Portfolios mit unkorrelierten Risiko- und Renditefaktoren generiert. In Kooperation mit der Bank Julius Bär hat Nectar im Februar 2018 das erste aktiv verwaltete Zertifikat, die Nectar Smart Alternatives, emittiert. Das Beispiel zeigt, dass Asset-Management mit einem Plattform-Geschäftsmodell und modernster Technologie demokratisiert werden kann.
Disruptiv bedeutet auch, einer grossen Masse den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen aller Art zu erleichtern. Während früher mit einem zentralen Mainframe-Computer nur grosse Konzerne dessen Möglichkeiten nutzen konnten, kann heute praktisch jedermann mit einem Mobiltelefon über eine digitale Plattform auf ein globales Eco- System zugreifen. Gleichzeitig leisten die Benutzer einen Beitrag, wobei es aus Kundensicht keine Rolle spielt, wer oder welche Infrastruktur zur Wertgenerierung in einem Eco-System beiträgt.
Banken und Fintech-Firmen haben die Chance, gemeinsam Eco-Systeme aufzubauen, in denen Finanz-kompetenz gezielt mit künstlicher Intelligenz kombiniert wird. So können die traditionelle Bankenwert-schöpfungskette erweitert und nachhaltige Nutzenvorteile für Kunden erzielt werden.
Grosse Organisationen müssen sich neu erfinden, indem sie eine offene und innovationsgetriebene Unternehmenskultur aufbauen, Partnerschaften eingehen und eine proaktive Rolle bei der Gestaltung von Eco-Systemen einnehmen. Denn nur agile und anpassungsfähige Firmen, welche die disruptiven Kräfte von Eco-Systemen verstehen, werden wettbewerbsfähig bleiben.